Frag den Coach: "Wie kriege ich meine Aufregung an der Startlinie in den Griff?"

Coaching

Du würdest vor dem Start am liebsten aus dem Stadion flüchten? Patrick Sang, Coach von Eliud Kipchoge, hat einige praktische Tipps.

Letzte Aktualisierung: 10. August 2021
6 Min. Lesezeit
So besiegt man sein Lampenfieber – Tipps von Coach Patrick Sang

Frag den Coach liefert dir Tipps und Ratschläge, die dich dabei unterstützen, dein Spiel aufs nächste Level zu bringen.

F:

Lieber Coach,

ich laufe praktisch schon mein ganzes Leben lang – das Laufen war von Anfang an genau mein Sport. Jetzt in meinem zweiten Jahr an der Highschool bin ich der schnellste Läufer in meinem Team und einer der besten im ganzen Bundesstaat. Die ganze Aufmerksamkeit ist auf mich gerichtet, von Familie und Freunden, Teamkameraden, Coaches und Talentsuchern. Diesen Druck halte ich langsam nicht mehr aus. Ich habe den Eindruck, alle wollen mit mir nur noch über das nächste Rennen reden. Sogar im Training haben meine Teamkollegen nur ein Thema: welche Konkurrenten ich ihrer Meinung nach schlagen kann. Mittlerweile habe ich richtig Panik vor Wettkämpfen und jedes Mal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Je mehr ich versuche, mich zu entspannen, desto aufgeregter und angespannter werde ich. Wie kann ich mein Selbstvertrauen wiederfinden und mich wieder aufs Laufen freuen?

Aufgeregt und nervös vor jedem Rennen
17-jähriger Läufer

A:

Mit diesem Gefühl bist du nicht alleine. Sehr viele Läuferinnen und Läufer sind speziell kurz vor dem Wettkampfstart extrem aufgeregt.

Diese Aufregung kann bei einem Rennen quasi spürbar in der Luft liegen. Das liegt daran, dass viele ehrgeizige Teilnehmer:innen am Start sehr gerne über den Wettkampf, die Konkurrenz, persönliche Rekorde und die Bedeutung des Rennens reden. Wenn sich viele Athlet:innen daran beteiligen, kann es dir vorkommen, als ob du nur von Aufregung und Hype umgeben bist.

Manchmal schaffen Athlet:innen diese Atmosphäre ganz ohne Absicht, manchmal steckt Kalkül dahinter. Einige Läufer:innen nutzen die Aufregung bewusst, um andere Teilnehmer:innen aus der Ruhe zu bringen oder zu entmutigen. Das kommt vor, und dessen solltest du dir bewusst sein.

Als ich 1987 an den Weltmeisterschaften teilnahm, durfte ich gegen einige der besten Athleten antreten, von denen einer eine ganz besondere Art hatte, seine Gegner vor einem Rennen zu irritieren. Er ging an die Startlinie und trat so stark gegen die Blöcke, dass es bis zur gegenüberliegenden Seite des Stadions zu hören war. Ich denke, das war eine bewusste Strategie – und sehr effektiv.

Was ich damit sagen will: Ein Teil der Aufregung, die du vor einem Rennen empfindest, könnte durch dein Umfeld verursacht werden. Als Erstes solltest du also hier ansetzen und es ändern. Achte darauf, wer im Teilnehmerfeld nonstop über den Wettkampf redet, und nimm einfach ein wenig Abstand von dieser Person. Versuch, Musik zu hören. Ich habe festgestellt, dass mich das vor einem Rennen beruhigt. Auch Lesen am Abend vor einem Wettkampf kann helfen, dass sich deine Gedanken nicht ständig darum drehen. Betrachte es als Übung, um deine Aufmerksamkeit an der Startlinie zu fokussieren.

So besiegt man sein Lampenfieber – Tipps von Coach Patrick Sang

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, deine Aufregung vor dem Rennen in den Griff zu bekommen: Besprich mit deinem Coach, dass du mehr Verantwortung im Team übernehmen möchtest.

Sobald ich sehe, dass eine Läuferin oder ein Läufer zu sehr an den Wettkampf und die Konkurrenz denkt, beginne ich, meinem Schützling mehr Verantwortung zu übertragen und lasse ihn beispielsweise den Trainingsparcours aufbauen oder die Trainingssession leiten. Dein Kopf braucht eine Aufgabe – und wenn er sie gut erledigt, fängst du an, an dich zu glauben, und deine Aufregung tritt in den Hintergrund. Aus dem Grund weise ich allen Läufer:innen, die ich trainiere, im Trainingscamp bestimmte Aufgaben zu, sogar Eliud Kipchoge!

Nachdem du nun erfahren hast, wie du dich mental beruhigen kannst, verrate ich dir jetzt etwas, das dich vielleicht überraschen wird: Aufregung ist nicht per se schlecht. Ich bin selbst immer bis zu einem gewissen Grad aufgeregt und angespannt, wenn ich mich auf ein Rennen vorbereite, aber ich habe gelernt, meine Aufregung zu nutzen, um meine Konzentration zu schärfen und mich daran zu erinnern, worum es geht.

Eine effektive Methode, die dir hilft, unter Druck Leistung zu bringen, ist, dass du dir antrainierst, dich bei akuter Aufregung auf die Bewegungen deines Körpers zu konzentrieren.

Ich begann mit dem Hindernislauf, bei dem man über Hindernisse und einen kleinen Wassergraben springen muss. Dein Geist und dein Körper müssen zusammenarbeiten, wenn du die nächste Hürde überwinden willst. Diese Überzeugung prägt meinen gesamten Ansatz als Laufcoach. Ich möchte, dass meine Läufer:innen bewusst wahrnehmen, wie ihre Hände schwingen, wie sich ihre Beine bewegen und wohin ihre Augen gerichtet sind. Selbst bei einem Langstreckenlauf, bei dem es unangenehm sein kann, sich der eigenen Empfindungen bewusst zu sein, sollten Geist und Körper immer synchron sein. Dann kannst du nämlich ohne große Anstrengungen intelligenter laufen.

In gewisser Weise ist deine Aufregung ein Hinweis für dich, aufmerksam und fokussiert zu bleiben. Eine effektive Methode, die dir hilft, unter Druck Leistung zu bringen, ist, dass du dir antrainierst, dich bei akuter Aufregung auf die Bewegungen deines Körpers zu konzentrieren. Das mag dir jetzt vielleicht nicht möglich erscheinen, weil deine Aufregung in dem Moment einfach überlaut und panisch in deinem Kopf tönt. Aber wenn du all die anderen Techniken anwendest, die ich angesprochen habe – dich von stressigen Gesprächen fernhalten, dich mental mit Musik oder Lesen beruhigen und eine Führungsrolle in deinem Team übernehmen –, wird deine Aufregung vielleicht immer leiser und schließlich zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern werden.

Betrachte dieses Flüstern als Botschaft, die dir sagt: "Jetzt konzentriere ich mich. Jetzt atme ich. Jetzt lenke ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Moment." Deine Aufregung wird vielleicht nie ganz verschwinden, aber sie kann sich verändern. Und vielleicht wirst du feststellen, dass sie dir in dieser neuen Form guttut.

Coach Sang

Patrick Sang ist Laufcoach und ehemaliger Spitzenläufer aus Kenia. Seit 2002 trainiert er Eliud Kipchoge und hat ihn auf seinem Weg zu einer olympischen Goldmedaille, dem Marathonweltrekord und dem ersten Marathonlauf unter zwei Stunden begleitet. Sang hat als internationaler Läufer für Kenia bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1991 und 1993 sowie bei den Olympischen Spielen 1992 die Silbermedaille im 3.000-Meter-Hindernislauf gewonnen. Während seiner College-Zeit an der University of Texas at Austin stellte Sang den Schulrekord beim 3.000-Meter-Hindernislauf auf.

Schick uns deine Frage zu Mindset, Sport oder Fitness per E-Mail an askthecoach@nike.com.

Fotos: Kyle Weeks

So besiegt man sein Lampenfieber – Tipps von Coach Patrick Sang

Mach mehr aus deinem Training

In der Nike Training Club App findest du weitere Expertentipps zu Themen wie Bewegung, Mindset, Ernährung, Regeneration und Schlaf.

Mach mehr aus deinem Training

In der Nike Training Club App findest du weitere Expertentipps zu Themen wie Regeneration, Mindset, Bewegung, Ernährung und Schlaf.

Ursprünglich erschienen: 7. Juli 2021

Verwandte Storys

Coach Courtney Banghart erklärt, was du tun kannst, wenn du unter dem Hochstapler-Syndrom leidest

Coaching

Frag den Coach: "Wie überzeuge ich mich selbst davon, dass ich gut bin?"

Die beste Art von Selbstgespräch für mehr Leistungsfähigkeit

Coaching

So motivierst du dich zu Bestleistungen

So spezialisiert man sich auf eine Sportart – Coach Gjert Ingebrigtsen

Coaching

Frag den Coach: "Muss ich mich auf eine Sportart spezialisieren?"

So erholt man sich richtig von einer Verletzung – Coach Gjert Ingebrigtsen

Coaching

Frag den Coach: Warum verletze ich mich immer wieder?

Trainerin Courtney Banghart erklärt, was du tun kannst, wenn du ausgeschlossen wirst

Coaching

Frag den Coach: "Wie gehe ich damit um, wenn mein Team mich ausschließt?"