Frag den Coach: "Wie bringe ich meinen Eltern bei, dass sie sich aus meinem Sport raushalten sollen?"

Coaching

Wenn sich Eltern zu sehr in die sportliche Karriere ihrer Kinder einmischen und dadurch deren Leistung gefährden, "trainiert" Eliud Kipchoges Coach Patrick Sang die ganze Familie.

Letzte Aktualisierung: 10. August 2021
6 Min. Lesezeit
Trainer Patrick Sang zum Umgang mit Eltern, die sich in den Sport ihrer Kinder einmischen

Frag den Coach liefert dir Tipps und Ratschläge, die dich dabei unterstützen, dein Spiel aufs nächste Level zu bringen.

F:

Hallo Coach,

Mein Vater spielte bis zu einer Verletzung im College erfolgreich Football. Meine Mutter begann schon als Kind mit Tennis und wäre gerne Profispielerin geworden, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Jetzt bin ich ins Leichtathletikteam meiner Schule gekommen und meine Eltern machen mir ständig Druck, ich solle noch besser werden. Es ist, als ob ich ihre Träume verwirklichen soll. Für mich war die Leichtathletik immer mein eigenes Ding, aber inzwischen habe ich das Gefühl, ich mache das alles nur noch für sie. Wie kann ich wieder die Kontrolle über meinen eigenen Sport zurückbekommen und ihre Stimmen in meinem Kopf ausschalten, damit mir das Laufen wieder Spaß macht?

Jemand, dem der Druck den Spaß am Sport nimmt
17-jährige Sprinterin

A:

Auch wenn es sich noch nicht so anfühlt, aber du hast es schon fast geschafft.

Ich kenne das Gefühl, unter Druck gesetzt zu werden, selber aus meiner Zeit als Läufer an der Universität von Texas in Austin. Der Chef-Coach hatte die Erstsemestermannschaft hauptsächlich anhand der Statistiken der einzelnen Läufer zusammengestellt. Als er uns das erste Mal sah, stellte er uns Fragen über uns und unseren läuferischen Hintergrund. Er schritt die Reihe ab und ich konnte an seinem Gesicht sehen, wie seine Enttäuschung über unsere mangelnde Erfahrung wuchs. Er hatte so hohe Erwartungen gehabt, und jetzt erfüllten wir sie nicht. Das machte ihn unglaublich wütend. Ich konnte das in seinen Augen sehen. Und ich sage dir, das war kein schönes Gefühl!

Irgendwann bekam ich mit, dass der Coach selber unter großem Druck stand. Von ihm wurde erwartet, dass er ein Siegerteam zusammenstellte. Diesen Druck gab er an uns weiter. Als mir klar wurde, was er durchmachte, konnte ich seine Ängste von meinen trennen. Ich fühlte mit ihm und war nicht mehr wütend auf ihn. So konnte ich ihm ruhiger entgegentreten. Als es dann zu den nächsten Testläufen kam, war ich in der Lage, ihm zu zeigen, was in mir steckte. Und ich kann dir sagen, es war ein ganz besonderes Gefühl zu wissen, dass ich so viel besser performte, als er erwartet hatte. Aber das hätte ich nicht geschafft, wenn ich nicht auch seine Lage verstanden hätte.

Das meine ich, wenn ich sage, du hast es schon fast geschafft. Du verstehst, warum deine Eltern sich so verhalten, wie du es beschreibst. Du hast erkannt, dass sie eigentlich durch dich ihre eigenen Träume verwirklichen möchten. Du weißt, dass es eigentlich nicht um DEINE Leistung geht, sondern um das Bedauern über ihr eigenes Scheitern. Dadurch, dass du das verstanden hast, bist du in der Lage, diese Herausforderung zu meistern. Ich habe noch eine Geschichte für dich, die dir auf deinem weiteren Weg helfen kann …

Als ich in den 80ern mit der Leichtathletik anfing, veränderte sich die Laufszene in meiner Heimat Kenia gerade sehr stark. Die Menschen fingen an, den Sport als Möglichkeit zu sehen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ein Stipendium zu bekommen und vielleicht sogar in die USA zu gehen. Ich erlebte immer öfter, dass die Läufer und Läuferinnen für ihre Partner:innen und Familienmitglieder eine Art Einkommensquelle wurden. Sie mussten liefern, vielleicht nicht immer in Form von Leistung, aber auf jeden Fall in Form von Ressourcen. Wenn man Sportler und Sportlerinnen auf diese Weise unter Druck setzt, tragen sie ein fast physisches Gewicht auf ihren Schultern, und das lässt sie fast immer und im wahrsten Sinne des Wortes langsamer werden.

Manchmal geht es nicht darum, die Familie auszuschließen, sondern vielmehr darum, sie in den Prozess mit einzubinden, damit sie dich und deine Leidenschaft besser versteht.

Trainer Patrick Sang zum Umgang mit Eltern, die sich in den Sport ihrer Kinder einmischen

Außenstehende denken oft, dass ein bisschen Druck hilft, die eigenen Erwartungen zu erfüllen, welche das auch immer sein mögen. Dass es nur darum geht, dass du dir beim Wettkampf etwas mehr Mühe gibt. Sie wissen nicht, dass die eigentliche Leistung in den vielen Trainings- und Vorbereitungsstunden zu finden ist. Und dass Kraft und Motivation von innen kommen.

Du hast erzählt, dass deine Eltern selber Sportler waren. Aber offensichtlich haben sie vergessen, wie viel Arbeit man jeden Tag in das Training stecken muss und wie viel Kampf und Opfer jeder Erfolg bedeutet. Vielleicht nimmst du deine Eltern mal mit zum Training? Lass sie miterleben, wie du dich aufwärmst und dehnst und wie du dich immer wieder in den Startblock stellst. Zeig ihnen, wie du an deinem Tempo, deiner Technik und deiner mentalen Ausdauer arbeitest. Wenn sie sehen, wie viel Energie du in deinen Sport steckst, verstehen sie vielleicht, wie sehr du dich selbst jeden Tag pushst. Das kann ihnen helfen, die eigenen Ängste zu überwinden und zu sagen: "Du schaffst das!"

Manchmal geht es nicht darum, die Familie auszuschließen, sondern vielmehr darum, sie in den Prozess mit einzubinden, damit sie dich und deine Leidenschaft besser versteht.

Wenn sie trotzdem nicht aufhören, dich unter Druck zu setzen, musst du offen mit ihnen reden. Mach ihnen klar, dass dich ihre Kommentare demotivieren. Erkläre Ihnen, dass du deinen Sport genauso liebst wie sie ihren. Dafür brauchst du Mut, aber es lohnt sich.

Wenn deine Eltern jetzt hier wären, würde ich ihnen sagen, wie glücklich sie sein können, eine Tochter zu haben, die ihren Sport wirklich liebt. Ich würde ihnen sagen, dass man deine Begeisterung für das Laufen schützen, fördern und unterstützen muss und nicht durch zu viel Druck gefährden sollte. Und ich würde ihnen sagen, dass sie durch ihr Verhalten nicht das erreichen werden, was sie sich wünschen. Sie sollten deinem Feuer Luft lassen, damit es hell lodern kann.

Und dann würde ich euch alle drei noch an etwas erinnern: Ihr alle wollt dasselbe. Deine Eltern und du, ihr wollt euer Potenzial voll ausschöpfen. Wenn du ihnen klar machen kannst, dass der Weg dorthin über Unterstützung und nicht über Druck führt, dann gibt es für mich keinen Zweifel: Du wirst das Laufen wieder lieben lernen. Und auch deine Eltern werden mit etwas Abstand mehr Spaß daran haben.

Coach Sang

Patrick Sang ist Lauf-Coach und ehemaliger Spitzenläufer aus Kenia. Seit 2002 trainiert er Eliud Kipchoge und hat ihn auf seinem Weg zu einer olympischen Goldmedaille, dem Marathonweltrekord und dem ersten Marathonlauf unter 2 Stunden begleitet. Sang hat als internationaler Läufer für Kenia bei den Leichtathletikweltmeisterschaften 1991 und 1993 sowie bei den Olympischen Spielen 1992 die Silbermedaille im 3000-Meter-Hindernislauf gewonnen. Während seiner College-Zeit an der Universität Texas in Austin stellt Sang den Schulrekord beim 3000-Meter-Hindernislauf auf.

Schick uns deine Frage zu Mindset, Sport oder Fitness per E-Mail an askthecoach@nike.com.

Fotos: Kyle Weeks

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Ursprünglich erschienen: 22. Juni 2021

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